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Аnatoli Steiger

Tschomolungma

1

Er arbeitete den ganzen Tag lang im Garten und beschloss, schwimmen zu gehen, sobald die Herrschaft abgereist war. Nachdem das Mädchen das Tor hinter sich zugeschlagen, und  Herr von Giesbuch ihm aus dem Auto zum Abschied gewunken hatte, zog er sein Hemd vom Gebüsch herunter und sammelte das Werkzeug  ein – Gabel, Rechen, Schere, Karre. Er holte den Hunden aus der Garage etwas zu fressen, damit sie nicht mitrannten und auf das Haus aufpassten, ging nicht ins Haus, um seine Badehose zu holen, sondern trat gleich auf den schmalen Pfad, der abwärts durch den kleinen Kiefernwald zum See führte. Er lächelte – die Anlegestelle zwischen den Bäumen, ein schönes Stück  Ufer, war auch im privaten Besitz seines Arbeitgebers. Gehörte ihm auch das Seewasser am Ufer? Wie auch immer, aber es war teuflisch angenehm, allein im Wald und im Wasser zu sein und dann allein und ungestört bis zum Abend auf den warmen und sauberen Brettern zu liegen.
Die Luft wurde kühler, vom fernen Ufer kam schon kein Lärm mehr herüber. Über die Bäume und den See strich ein Windzug. Im Osten hinter dem Dorf, das in der Mitte eines malerisch gelben Rapsfeldes lag, zogen sich einige dunkle Wolken zusammen.
Es war Zeit, für den Tierpark zu sorgen, und er ging zurück.
Die Besitzer hatten vergessen, dass Haus abzuschließen – die Tür ging ohne Schlüssel auf. Obwohl das keine Konsequenzen hatte und die zwei prächtigen Rassehunde, die rund um die Uhr für die Ruhe auf dem ganzen Gelände sorgten und jetzt ihre Schnauzen ruhig auf die Pfoten gelegt hatten und ihn träge beobachteten, machte er sich Vorwürfe, er hatte sich auch einen ganzen Monat lang rund um die Uhr um das Haus und alles Drumherum zu kümmern.
Die Hunde mochten ihn. Seine Ankunft vom See begrüßte  die schwarze Lesley mit ihrem langen dicken Schwanz - ging hoch und legte sich wieder. In den kleinen, runden, etwas asiatischen Augen des roten Aramis,  der ihn mal mit einem, mal mit dem anderen Auge betrachtete, sah man gleichzeitig Treue und List. Es schien, er behielt auch das Küchenfenster im Auge, als ob jemand da wäre.

Beim Eintreten in die Küche bekam er beinahe einen Schlag – hinter dem großen, langen Tisch saß die schöne Herrin des Hauses und trank Tee, die schon längst irgendwo in Richtung Alpen unterwegs sein sollte, die Baronesse von Giesbuch  höchstpersönlich. Sie begutachtete ihn mit leichtem Lächeln von oben bis unten, zuerst verwundert und dann ironisch, sagte aber nichts. Er stotterte: „Verzeihung, unerwartet, deshalb halb angezogen, nur Unterhosen, gleich, ich dachte... Alpen…“  Er eilte in den Flur und zwei Treppen höher, hörte kaum, was sie mit heiterer Stimme lachend schrie – er solle wieder runter kommen Tee trinken, wenn er sich angezogen habe, es sei heute heiß gewesen.
Er erreichte den zweiten Stock unter dem Dach, ging in eines der drei Zimmer, das ihm zur Verfügung gestellt worden war. Vor einem Jahr hatte das ganze Dachgeschoss den Kindern gehört, und das Zimmer für die Gäste, wo er auch immer beim Einhüten geschlafen hatte, befand sich im ersten Stock.
Es dämmerte. Ein blauer Schatten lag über den dunklen Bäumen auf dem Abhang zum See, und die feuchte frische Luft im Zimmer war genauso berauschend wie draußen, sogar noch stärker nach dem Sonnenuntergang und vor dem kommenden Gewitter. Der östliche Himmel war schon ganz dunkel und näher zum See gerutscht, und das Wasser war stellenweise auch verdunkelt. Es gab noch einige Schwimmende in der offenen Badestelle, und ihre entfernten Stimmen klangen gedämpft aber deutlich.
Er ging runter.
Auf dem Tisch standen zwei Tassen, beide voll mit dunkler Flüssigkeit. Die Baronesse  rauchte, bot ihm auch eine Zigarette an. Er wusste, dass im Haus nicht geraucht wurde, er hatte es nie getan, auch wenn er allein war.
„Ich habe die Lüftung eingeschaltet, es wird kein Geruch bleiben“, sagte sie. „Möchten Sie Tee? Er ist von meiner Mutter. Ich war bei ihr, wollte heute noch meine Kinder und den Mann einholen,  bin aber schon zu müde, um weiter zu fahren. Morgen früh... obwohl ich, ehrlich gesagt, keine Lust dazu habe… Berge, Schnee, fie…“
„Wie geht’s Ihrer Mutter?“
„Danke, einigermaßen, für ihr Alter. Schmeckt der Tee?“ Sie schaute ihn lächelnd an. „Ihr Gesicht zeigte eine solche Überraschung, als sie eintraten, dass ich einen Augenblick lang dachte, ich sei nicht im eigenen Haus... ist der See warm? Ich wäre gern auch hinein gesprungen, allein, blank,  bin aber zu müde, bis dahin zu gehen. Und ich spüre, es gibt heute Gewitter.“
„Ich auch“, sagte er. „Es sieht so aus.“
„Sind Sie sicher?“
„Wenn es um das Wetter geht, kann man nie sicher sein, aber trotzdem… ich spüre es an der Haut.“
Sie schaute ihn verwundert an: „Ich auch. Ich habe ein Gewitter schon immer gespürt. Von Kindheit an. Meine Mutter lachte zuerst,  es sei doch kein Wölkchen zu sehen, dann aber fragte sie sogar, na, Anette, sag mal, wird’s heute donnern? Aber dich braucht man ja nicht zu fragen, sagte sie, das sieht man... Ich wollte immer wegrennen, aber wohin?“
Der Tee hatte einen eigenartigen Geschmack und roch nach vielen Blumen gleichzeitig, wie eine Wiese in der Nacht nach einem heißen Tag.
„Wenn Sie Abendbrot essen wollen, ich würde Sie nicht stören. Essen Sie ruhig, ich gehe gleich, ich hab bei meiner Mutter gegessen.“
„Vielleicht später.“ Nach der Zigarette hatte er wirklich den Appetit, der nach dem Schwimmen so groß gewesen war, verloren. Sie rauchte ihre Zigarette bis zur Kippe und zündete eine neue an, löschte sie aber nach einem Zug:
„Gewöhnlich rauche ich nicht mehr als eine am Tag... und notiere mir es vorher. Zum Kontrollieren…“
„Bei mir klappt es nicht. Ich bin ein echter Junkie dieser Suchtdroge Nummer eins in unseren Zeiten, ich komme nicht los.“
„Sie sind zu empfindlich. Ich versuche meine Sucht in den Griff zu bekommen.“
Draußen gingen die Lichter an - sie schalteten sich nach jeder Bewegung in der Dunkelheit ein - und man hörte einen starken Schlag gegen die Fensterscheibe. Es war Aramis, der seine zwei riesigen Vorderpfoten mit einer schlauen Schnauze dazwischen gegen die Fensterscheibe gepresst hatte.
„Nicht so ungeduldig“, sagte die Besitzerin lächelnd und ließ die Hunde ins Haus, die sich gleich ächzend und seufzend in ihre Holzkiste im Flur platzierten. „Die wissen, wann es Zeit zum Schlafen ist… Ich gehe auch…“
Sie wünschte ihm eine gute Nacht und ging nach oben in den ersten Stock. Er spürte auch, dass er ziemlich müde war, ging hinaus, überprüfte das ganze Gelände, schloss die Hühner- und Vogelhäuschen und die Garage ab und blieb eine Weile auf der Bank unter den Bäumen in völliger Dunkelheit sitzen. Die Tannen und Kiefern waren riesig und mit so dichten Kronen, dass man nur nach einem sehr starken Windstoß einige Sterne sehen konnte. Aber für das ferne Wetterleuchten gab es nichts, was es daran hindern konnte, den dunklen Wald so zu beleuchten, dass man jedes Gräschen sehen konnte.
Er ging ins Haus. Im ersten Stock sah er die nicht verschlossene Tür zum Schlafzimmer der Herrin des Hauses und dachte, dass sie wirklich müde sein musste. Und morgen wollte sie noch in die Berge, die sie, wie sie einmal erzählt hatte, nie besonders gemocht hatte. Schon bei der Ankunft ins Hochland  wurden ihre Handflächen feucht und sie geriet in Panik. Er hatte sie gefragt, wieso sie denn dahin fahren würde, und sie hatte geantwortet: „Um meinen Kindern und meinem Mann Freude zu machen.“